Ich erinnere mich sehr gerne an den Sommerurlaub im letzten Jahr zurück. Meine Freundin und ich mieteten uns eine Wohnung in einer alten Scheune, weit draußen auf dem Land. Mit der Ankunft starteten wir eine einwöchige Digital-Fastenkur, was bedeutete: Kein Internet, kein Smartphone, kein Fernseher.
Als wir an einem sonnigen und warmen Nachmittag mit unseren Fahrrädern auf einer schönen Landstraße fuhren, uns zu beiden Seiten weite Felder und grüne Wiesen umgaben, ein leichter Wind für eine angenehme Temperatur sorgte und ich meine Vorfreude auf unser Ausflugziel spürte, fühlte ich mich, als wären wir die Hauptfiguren eines wunderschönen Sommerromans, der gerade gelesen wird. Als wir dann abends wieder bei der Scheune waren und einen Rotwein aufgemacht haben, hatten wir das Gefühl, auf einen langen und intensiven Tag zurückblicken zu können. Ein ähnliches Gefühl kenne ich aus meiner Kindheit.
Unser Garten war damals mit dem Garten meiner Großeltern verbunden. Es war ebenfalls ein schöner Sommertag, als ich mit meiner Schwester, sie nahm mich an die Hand, gerade von einem kurzen Besuch unserer Großeltern zurück in unseren Garten kam. Genau von diesem Augenblick gibt es ein Foto, es ist mein Lieblingsfoto aus meiner Kindheit. Ich kann mich noch an dieses Gefühl erinnern, das ich damals hatte: Da war nur der Moment, so etwas wie Zeit gab es nicht. Der Sommer schien endlos zu sein. Ich fühlte mich sicher (Kann man sich sicherer als an der Hand der großen Schwester fühlen?) und ich wusste, dass alles gut ist und immer bleiben wird. Jedes Mal, wenn ich dieses Foto anschaue, wird ein Stück von diesem Gefühl wieder lebendig.
If you close your eyes, does it almost feel like nothing changed at all? (Bastille – Pompeii)
Diese Momente waren unter anderem deshalb so besonders, weil Zeit in ihnen eine andere Dimension hatte. Sowohl im Sommerurlaub als auch in der Kindheit kamen mir die Tage ewig lang vor.
Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass es rund um diese Momente keine Termine, Deadlines und Pläne gab. Die Momente waren umgeben von Leerräumen. Damit meine ich Zeitabschnitte, in denen nichts Außergewöhnliches passiert, man nichts Besonderes vorhat, kein bestimmtes Ziel verfolgt, auf keinen Bildschirm starrt und sich vielleicht manchmal sogar langweilt. Leerräume gibt es aber nicht nur im Urlaub und in der Kindheit, sondern auch im Alltag.
Hier entstehen sie beispielsweise beim Warten an der Bushaltestelle, an einem freien Feierabend, bei einer Zug- oder Autofahrt, am frühen Morgen vor einem Arbeitstag oder beim Warten in einer Schlange.
Dass so viele Menschen das Gefühl haben, dass die Zeit immer schneller zu laufen scheint, liegt natürlich nicht daran, dass die Zeit tatsächlich schneller läuft, sondern vielmehr an der Abwesenheit von eben diesen Leerräumen, besonders im Alltag.
Auch in meinem Leben werden sie seltener.
Heute Morgen habe ich mir aus diesen Erinnerungen und Überlegungen heraus zwei Fragen gestellt:
- Warum werden Leerräume in meinem Leben seltener?
- Was ist das Besondere an ihnen und warum ist es lohnenswert, sich Leerräume (im Alltag) zu bewahren?
Warum werden Leerräume in meinem Leben seltener?
Damals haben Cowboys blitzschnell ihren Revolver aus der Tasche gezogen, wenn sie einer Bedrohung gegenüberstanden. Heute ziehen die Menschen sofort ihre Handys aus der Tasche, wenn sie einem leeren Zeitabschnitt gegenüberstehen bzw. sich in einem befinden. In meinem Alltag mangelt es auf jeden Fall nicht an Leerräumen, jedoch habe ich mir in den letzten Jahren mehr und mehr angewöhnt, diese mit digitalem Konsum zu füllen. Wenn ich mal zufällig gerade gar nichts tun kann, schaue ich schnell mal bei WhatsApp, scrolle kurz bei Insta durch und schaue auf YouTube ein Video an. Oder vielleicht fünf, wenn man gerade schon mal dabei ist. Die sozialen Netzwerke wollen genau in diese Zwischenräume des Alltags rein. In diese wunderbaren Phasen, in denen gerade nichts Besonderes passiert. Und dieser Plan scheint aufzugehen. Die Ruhephasen werden zunehmend abgeschafft und durch Konsumphasen ersetzt. Das bedeutet, dass die leerstehenden Zeiteinheiten nicht leer bleiben, sondern augenblicklich mit etwas gefüllt werden.
Es gibt sicherlich noch viele weitere Gründe für das Verschwinden von Leerräumen im Alltag, jedoch sind wir bei der oben beschriebenen Ursache an einem entscheidenden Punkt angelangt.
Was ist das Besondere an Leerräumen und warum ist es lohnenswert, sich Leerräume (im Alltag) zu bewahren?
Als ich weiter über das ganze Thema nachdachte, stellte ich mir die Frage: Hat das Ersetzen der Leerräume durch den digitalen Konsum mein Leben besser gemacht? Die Beschäftigung mit dieser Frage brachte mich dann zu einer wichtigen Einsicht. Ich habe nämlich für mich erkannt, dass ich dabei bin, mein persönliches optimales Maß für den digitalen Konsum zu überschreiten. Ich möchte die Möglichkeiten der digitalen Welt gar nicht gänzlich aus meinem Leben streichen, sondern vielmehr ein sinnvolles Maß für den Umgang finden, das meinen Alltag bereichert und ihn nicht beraubt. Nur weil das Angebot im digitalen Raum größer wird, muss ich ja nicht zwangsläufig auch meinen Konsum erhöhen.
Ich liebe Leerräume. Ich mag es total, wenn ich gerade nichts vorhabe. Denn genau in diesen Momenten kann ich diese Zeit mit etwas füllen, mit dem ich selbst vielleicht gar nicht gerechnet habe. Mit einem Einfall, der mich selbst überrascht, mit einer Idee, die ich gerne sofort umsetzen möchte. Mit schönen Momenten, die ich um mich herum beobachten kann. Oder ich stelle mir wichtige Fragen, wie: Wie geht es mir gerade? Und warum geht es mir so? Was brauche ich gerade? Und warum brauche ich das? Und wie kann ich das bekommen? Was denke ich gerade? Warum denke ich das und möchte ich das denken?
Ich möchte wieder lernen, Leerräume in meinem Leben mehr wertzuschätzen. Also Zeitabschnitte wieder höher zu bewerten, in denen nichts Besonderes passiert, seien sie noch so kurz oder lang.
Die wertvollen Momente des Lebens finden nicht am Bildschirm statt.
Begleitet von diesen Gedanken freue ich mich schon wie ein kleines Kind auf die bevorstehenden Sommertage und auf Momente, die in Erinnerung bleiben werden.